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Hochwasserbetrachtungen vom 15. und 25.07.2021

Ich sitze auf einer Bank hoch oben in den Dünen und blicke aufs Meer. Alles ist verhangen und grau. Genauso fühlt es sich in meinem Kopf an. Matschig, wie das Hochwasser zu Hause in Hattingen.

Und dennoch, weiter hinten im Meer bäumen sich kleine weiße Wellen auf. Sie wirken wie Hoffnungsschimmer, Hoffnungsreiter. Ob sie mich erreichen?

 

Ich kann gerade nicht mehr, bin physisch und psychisch geschafft, fühle mich ohnmächtig und hilflos.

Zu Hause herrscht das Hochwasser und ich bin am Meer und kann nichts machen. Es ist so als würde das Hochwasser auch mich beherrschen. Ich hatte gehofft, durch einen zügigen Gang zum Meer, einen Hauch von Erdung zu bekommen.

Aber nein! Die Unruhe sitzt in jeder Zelle.

Gerade möchte ich nichts anderes, als meinen Mann in den Arm nehmen, ihm beistehen, der versuchte zu retten, was er retten konnte.

 

Die Ruhr hat den Jahrhundertpegel von 2007 überschritten und ist auf 7 Meter angestiegen. Das ist unglaublich und keiner sah das vorher. Vor 14 Jahren stand das Wasser mal einen Meter bei uns im Garten.

Heute Nacht stieg die Ruhr überraschend so stark an, dass der Garten komplett überflutet wurde und das Wasser am Morgen gegen 5.30 Uhr anfing, in unser Haus zu laufen. Es bahnte sich als erstes seinen Weg in meinen Kreativraum, später in die Werkstatt und schließlich in alle Räume.

Mittlerweile steht das Wasser schon 20 cm hoch (gegen 10 Uhr) im gesamten Untergeschoss.

Frank rödelte so lange er durfte, räumte untere Fächer und Schubladen hoch. Mehr ging nicht. Um 6 Uhr schellte die Feuerwehr, um Bescheid zu geben, dass der Strom abgeschaltet würde. Es dauerte keine Minute und der Strom war weg. Kurze Zeit später klingelte die Feuerwehr erneut, um Frank mitzuteilen, dass er in 20 Minuten das Haus verlassen müsse. Insgesamt wurden 15 Häuser evakuiert. Als ich das hörte, fühlte ich mich wie erstarrt. Plötzlich wie aus dem Nichts waren wir obdachlos. Obwohl ich gar nicht zu Hause bin, fühle ich mich genau so betroffen.

 

Ich sitze hier auf meiner Bank und bin einfach nur traurig. Ich bekomme eine leise Ahnung davon, wie mein Vater sich 1945 gefühlt haben musste, als er mit seiner Familie in Sachsen-Anhalt enteignet wurde. Später am Telefon sagte meine Mutter zu mir: "Das ist ja wie im Krieg." Ich kann mir vorstellen, dass angesichts der schlimmen Bilder etwas getriggert wird.

 

Der Starkregen der letzten Tage kam mit einer Urgewalt über NRW und Rheinland-Pfalz. In 2 Tagen regnete es Regenmengen von 3 Monaten. Die Kapazitäten der Kanalisationen waren überschritten. Kleine Bäche, die harmlos schienen, wurden zu reißenden Flüssen und Schlammlawinen bahnten sich ihren Weg. Rückhaltebecken und Talsperren konnten kein Wasser mehr aufnehmen. Wo soll das ganze Wasser auch hin? Menschen starben und sterben. Ein Naturkatastrophe, die ich in diesem Ausmaß zum 1.Mal selbst erlebe.

 

Wir sind mit unserer Natur nicht in Einklang. Politik und Wirtschaft haben Jahrzehnte nur an sich gedacht. Hauptsache die Leistung steigt und wir sind wettbewerbsfähig. Ganz bewusst wurde das ökologische Gleichgewicht zerstört. Das ist so bitter!

Ich denke, dass ich einigermaßen nachhaltig lebe, indem ich versuche, Plastik zu vermeiden, tierversuchsfrei und biologisch einkaufe und mich vegetarisch, fast vegan ernähre. Das alles ist nur ein Tropfen auf den heißen Stein, wenn auch sinnvoll.

 

Werden Menschen, Politik und Wirtschaft jetzt wachgerüttelt?

 

Im September wird gewählt. Für mich ist klar, dass nur eine Partei, die schnellstmöglich umweltfreundliche Beschlüsse umsetzt, gewählt werden kann.

 

Das ist die eine Seite der Medaille. Genau so wichtig ist die Selbstfürsorge eines jeden einzelnen Menschens. Sorge ich gut für mich, sorge ich automatisch gut für das große Ganze, für eine friedliche und nachhaltige Welt. Alles hängt mit allem zusammen.

 

Ich bete für die Natur, für alle Menschen, die vom Hochwasser betroffen sind, die Menschenleben verloren haben. Ich bete für uns alle.

 

Möge uns der Weckruf erreichen, für eine nachhaltige Politik, für Selbstliebe und Frieden unter den Menschen!!!

 

Ich schaue auf die schäumenden weißen Wellen in der grauen Seemasse.

Sie werden mir ein Hoffnungsschimmer bleiben.

 

 

Nun sind 10 Tage vergangen. Wir hatten Glück und konnten schon Freitagabend wieder in unser Haus. Das Wasser zog sich, genau so schnell wie es gekommen war, wieder zurück. Wir haben viel körperliche Arbeit geleistet, um alles zu entrümpeln und zu säubern.

Ich spüre, wie sehr mich diese Naturkatstrophe psychisch mitnahm/mitnimmt und ich nicht in der Lage war, gut für mich zu sorgen. Ich verfiel in alte Verhaltensmuster und hatte nicht die Kraft, diese aufzuhalten. Erst jetzt fange ich an, mich um mich zu kümmern und gewinne etwas Abstand zu meinem Funktionsmodus, der mich krank macht und sehr ungnädig mit mir ist. Was wahrscheinlich in einer solchen Ausnahmesituation ein Stück weit auch normal ist.

 

Gleichzeitig bin ich so dankbar, für die großartige Hilfe von allen Seiten in meiner Familie, für die Nachbarschaftshilfe, für den Nachbarschaftszusammenhalt, für 5 Tage Mittagessenlieferung unseres örtlichen Bio-Bauerns, für gespendeten selbst gebackenen Kuchen, für eingekaufte Lebensmittel, für gewaschene Kleidung...

Danke euch allen!!!!

Ich bin sehr dankbar, dass wir nur lästige Materialschäden im Gebäude und an Hausrat haben, auch wenn die Schäden auf eine Summe von über 30.000 € steigen werden.

Zum Glück sind wir gut versichert und ich hoffe, dass die Versicherung zahlen wird.

 

Langsam darf ein wenig Normalität in den Alltag zurückkehren.

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Kommentare: 6
  • #1

    Phil (Sonntag, 25 Juli 2021 19:32)

    Du trägst mit Deinen Gedanken, und Deine Weisheit stärkt. So sensibel gehst Du diese Situation an, spürst den Erfahrungen Deiner alten Familie nach, nimmst Anteil an Deiner Umwelt, bist das silbern schimmernde Netz, das in diesem Wahnsinn alles zusammenhält. So stark. So klug. So tapfer.
    Ich wünsche Dir, dass Du Dich selbst so wahrnehmen kannst.

  • #2

    Frank (Sonntag, 25 Juli 2021 21:25)

    Ich fühle wie mein Vorredner, gleichwohl mir dessen poetische Worte gerade nicht von der Hand gehen wollen. Auch ich bin noch schockiert und verarbeite das Erlebte in meinen Träumen, und gleichzeitig dankbar für die erfahrene Unterstützung und Hilfe. Yin und Yang halten sich wohl die Waage, aber die Unruhe, die seither von mir Besitz ergriffen hat, bestimmt meinen Alltag noch in einer Form, die mir dauerhaft nicht gut tut. Und dennoch: Ich bin nicht hoffnungslos, nicht antriebslos; sehr müde zwar, aber dennoch froh, diese Naturkatastrophe so glimpflich überstanden zu haben. Und ich freue mich auf ein Wiedersehen mit allen Helferinnen und Helfern, wenn wir die Wiederherstellung feiern können, auch wenn bis dahin noch einige Zeit vergehen wird!

  • #3

    Uli (Sonntag, 25 Juli 2021 22:21)

    Hallo, ich habe in der Sonne von Lübeck gesessen und konnte es nicht glauben. Ich habe sehr an euch gedacht und kann nachvollziehen, wie du dich gefühlt haben musst. Ihr seid sehr tapfer und letztendlich zeigt sich doch in solchen schlimmen Momenten die grosse Hilfsbereitschaft und Anteilnahme, die dann so gut tut. Ihr dürft euch daher sehr glücklich schätzen und das zeigt ihr ja auch. Dieser Schicksalsschlag birgt auch etwas Positives. Hut ab, dass ihr das geschafft habt!

  • #4

    Cathrin, Antwort für Phil (Montag, 26 Juli 2021 19:05)

    Lieber Phil,
    herzlichen Dank für deine so berührende Wortjonglage.
    Es ist schon eine Herausforderung, mich selbst so wahrzunehmen.
    Ein Versuch ist es wert �❤

  • #5

    Cathrin, Antwort für Frank (Montag, 26 Juli 2021 19:09)

    Lieber Frank,
    danke für deine Worte.
    Mir geht es sehr ähnlich wie dir. Die Unruhe will nicht wirklich weichen.
    Ich glaube, das braucht noch einiges an Zeit, und vor allem Raum, sich wieder mit sich selbst mehr zu beschäftigen.�❤

  • #6

    Cathrin, Antwort für Uli (Montag, 26 Juli 2021 19:12)

    Liebe Uli,
    danke für deine mitfühlenden Worte.
    Das sehe ich auch so, dass jeder Schicksalsschlag etwas Positives birgt.
    Auch wenn wir das häufig nicht sofort sehen können, wobei ich natürlich in unserem Falle nicht von einem Schicksalsschlag spreche ❤